Wenn Vergesslichkeit zur Krankheit wird
«Es war eine Erleichterung, als meine Mutter Corinne die Diagnose Morbus Alzheimer bekam », erzählt Bettina Molina aus Muttenz. «Wir wussten, dass etwas nicht stimmt, aber wir wussten nicht, was. Die Diagnose bedeutet für uns: Wir haben noch Zeit miteinander.»
Alles begann beim Kinderhüten. Bettina hatte Essen vorgekocht, aber Corinne vergass, es der Enkelin zu geben. Oder sie zog sich nicht so ganz richtig an. Die fürsorgliche Frau, Mutter von drei erwachsenen Kindern, handelte plötzlich seltsam unlogisch. Tragisch war das nicht, aber Tochter Bettina begann sich Sorgen zu machen und drängte zur Abklärung.
«Je früher, desto besser»
«Etwas zu vergessen, ist normal », sagt Dr. Massimo Ruffo. Der Internist und Altersmediziner ist leitender Arzt am Zentrum für Rehabilitation und Altersmedizin am KSBL. Er betont, dass wir bis ins hohe Alter hinein lernfähig sind und im frühen Stadium der Demenz die Grenzen zwischen normaler und auffälliger Vergesslichkeit fliessend sind. Wenn aber ein Mensch, der immer zuverlässig war, plötzlich Mahnungen bekommt und Termine vergisst, dann sei eine Abklärung bei einer Fachperson sinnvoll, und das «je früher, desto besser». Es dauerte eine Weile, ehe Bettina Molina ihre Mutter zur Abklärung überreden konnte. Als es endlich so weit war, führte der erste Weg zu Corinnes Hausärztin. Sie überwies ihre Patientin in die Memory Clinic des KSBL. Mehrere Termine folgten. Manches war dabei belastend für die beiden Frauen: Die Tochter musste die neuen Unzulänglichkeiten der Mutter schildern und die Mutter musste sie sich eingestehen. «Das Warten auf die Diagnose war die schwerste Zeit», sagt Bettina. Die Familie kann sich jederzeit an die Hausärztin wenden, wenn sie Hilfe braucht. Auch in der Memory Clinic können sie anrufen. Bis heute ist Corinne die erste Ansprechperson des Behandlungsteams, selbst wenn sie von ihren Kindern begleitet wird.

Was ist Demenz?
Demenz ist der Oberbegriff für mehr als 100 verschiedene Krankheiten, welche die Funktion des Gehirns beeinträchtigen. Die häufigste ist die Alzheimer- Demenz. Erblich bedingte Demenzerkrankungen sind sehr selten, der grösste Risikofaktor ist das Alter. Mit den Jahren steigt das Risiko exponentiell: Während bei den 65- bis 69-Jährigen unter zwei Prozent betroffen sind, erfüllen 30 bis 40 Prozent der 90-Jährigen die Kriterien für eine Demenz. Bisher ist Demenz nicht heilbar. Präventiv ist für das Gehirn alles gut, was auch dem Herz guttut: Bewegung, gesundes Essen und nicht rauchen. Unterstützend wirken gute soziale Kontakte und geistige Aktivitäten sowie das Vermeiden von Kopfverletzungen.
FAKT: In der Schweiz leben über 140’000 Menschen mit Demenz, in den beiden Basel sind es über 10’000.
Nicht jede Vergesslichkeit ist Demenz
In der Memory Clinic ist für eine/-n von zehn Patientinnen und Patienten nicht Demenz die Diagnose, sondern eine Depression, ungünstige Medikamente, Vitaminmangel, eine Schilddrüsenunterfunktion oder ein Hirntumor. Diese Krankheiten sind behandelbar. Schon deshalb lohnt sich die Abklärung. «Ohne Abklärung passiert nichts», sagt Dr. Ruffo. «Das gilt auch für Demenz. Mit der Diagnose kann eine Therapie beginnen. Das ist auch wichtig für die Angehörigen, die endlich die Probleme einordnen können.» So erlebt das auch Bettina Molina mit ihrer Familie. «Wir sind geduldiger geworden», sagt sie. «Wir nerven uns weniger, wenn unsere Mutter etwas vergisst. Administrative Konflikte gibt es nicht mehr, seit wir die Buchhaltung für unsere Mutter erledigen.» Vor allem aber staunt Bettina, dass ihre Mutter seit der Diagnose wieder beginnt, auf andere zuzugehen. «Das habe ich nicht für möglich gehalten», sagt sie. Corinne geht offen mit ihrer Erkrankung um, hat den Nachbarn davon erzählt, alte Freundschaften wiederbelebt und hat Freude an den Veranstaltungen der Alzheimer-Vereinigung beider Basel. «Alzheimer heisst ja nicht, dass alles schlimm ist. Wenn man das Thema direkt anspricht, verliert es viel von seinem negativen Einfluss auf Beziehungen», sagt Bettina und verabschiedet sich. Sie muss jetzt ihre Tochter abholen. Die Kleine ist bei ihrer geliebten Oma. Corinne hütet sie jetzt eben nur noch halbtags.
Memory Clinic
Nach der Überweisung durch den Hausarzt oder die Hausärztin findet hier die Abklärung statt. Sie umfasst zwei bis drei Termine. Der erste Termin ist eine ärztliche Untersuchung, der zweite eine neuropsychologische Abklärung. Auch eine Blutuntersuchung wird durchgeführt und ein Bild des Gehirns erstellt (MRI). Die Resultate der Untersuchungen werden interdisziplinär ausgewertet und mit der Patientin oder dem Patienten besprochen und ihr/ihm gleichzeitig auch die Therapiemöglichkeiten erörtert.

Dr. med. Massimo Ruffo
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin / Altersmedizin (Geriatrie)
Stv. Chefarzt Klinik Altersmedizin
Co-Leiter Zentrum für Altersfrakturen Baselland (ZAB)
Tel. +41 61 436 21 70
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Der Artikel ist in der KSBL-Gesundheitszeitung medizin aktuell, Ausgabe Mai 2022 erschienen.